Nur streicheln von Peter Singer

Orginal: Heavy Petting von Peter Singer

Es ist noch gar nicht so lange her, daß man jede Form der Sexualität, die nicht zur Zeugung von Kindern führte, zumindest als ungezügelte Lust, oder schlimmer noch, als Perversion angesehen hat. Diese Tabus sind eines nach dem anderen gefallen. Die Vorstellung, es sei falsch, Kontrazeptiva einzusetzen, um den Sex von der Empfängnis abzukoppeln, wirkt heute nur noch altertümlich. Wenn manche religiösen Fundamentalisten heute noch lehren, Masturbation sei „Selbst-Mißbrauch“, dann zeigt das nur, wie weit sie sich von der Wirklichkeit entfernt haben. Homosexualität? Die gehört zu den sexuellen Spielarten, man empfiehlt sie Paaren, die nach erotischer Abwechslung suchen. In vielen Metropolen der Welt können Schwule und Lesben ihre sexuellen Präferenzen offen leben, in einem Maße, das vor einem Jahrhundert unvorstellbar war. Selbst in den US Streitkräften ist es kein Problem, solange man nicht darüber spricht. Oralsex? Manche störten sich an Präsident Clintons Wahl von Ort und Partner, andere meinten, er hätte im Nachhinein ehrlicher sein können, aber niemand wagte sich auf den Standpunkt zu stellen, er sei als Präsident ungeeignet, nur weil er sich an einer sexuellen Aktivität beteiligt hatte, die in vielen Gesetzeswerken immer noch ein Verbrechen ist.

Aber nicht jedes Tabu ist zerbröckelt. Haben Sie in letzter Zeit Leute auf  einer Party darüber  plaudern hören, wie gut der Sex mit dem eigenen Hund sei? Wohl kaum. Sex mit Tieren ist immer noch und auf jeden Fall ein Tabu. Wenn Midas Dekkers, der Autor von Geliebtes Tier, Recht hat, ist das nicht, weil es so selten ist. Dekkers, ein niederländischer Biologe und bekannter Naturwissenschaftler, hat eine solide Sammlung von Nachweisen vorgelegt, die zeigen, daß Menschen bei „Tierliebe“ oft an mehr gedacht haben als nur an Kraulen und Streicheln, manchmal haben sie nicht einmal so sehr an das Wohlergehen der Tiere gedacht. In seinem Buch gibt es zahlreiche Illustrationen, bis zurück zu einer schwedischen Felszeichnung aus der Bronzezeit von einem Mann, der mit einem großen Vierfüßler unbestimmbarer Art kopuliert. Es gibt da eine griechische Vase von 520 v. Chr., die eine männliche Figur beim Sex mit einem Hirsch zeigt; auf einer indischen Miniatur aus dem siebzehnten Jahrhundert besteigt ein Hirsch eine Frau, ein europäischer Stahlstich aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt eine Nonne in Ekstase beim Verkehr mit einem Esel und andere Nonnen sehen lächelnd zu; ein persisches Gemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert von einem Soldaten, auch mit einem Esel, und, aus der gleichen Periode, eine japanische Zeichnung von einer Frau, die von einem gigantischen Oktopus umfangen wird, der an ihrer Scheide zu saugen und ihren Körper mit seinen vielen Armen zu streicheln scheint.

Wie viel davon ist Phantasterei? Die King-Kong-artigen Archetypen früherer Zeiten? Kinsey befragte zwanzigtausend Amerikaner über ihr Sexualverhalten und fand, daß acht Prozent der Männer und 3,5 Prozent der Frauen schon einmal Sexualkontakt mit einem Tier hatten. Bei Männern aus ländlichen Gebieten sprang diese Zahl auf 50 Prozent. Dekkers schlägt als Erklärung vor, daß junge männliche Farmarbeiter in einer Zeit, als Mädchen zum Sex vor der Ehe noch nicht so bereit waren, auf Tiere zur Befriedigung ihrer sexuellen Begierden auswichen. Österreichischen Gerichtsakten aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu Folge, wo Zoophilie grundsätzlich  strafrechtlich verfolgt wurde, haben Männer auf dem Lande meist Vaginalverkehr mit Kühen und Kälbern, weniger häufig mit Stuten, Fohlen und Ziegen und nur selten mit Schafen und Schweinen. Manchmal nutzen sie auch den Saugreflex von Kälbern zum Oralverkehr aus.

Daß Frauen Sex mit Bullen oder Widdern haben scheint mehr in das Reich der Fabeln als in die Realität zu gehören. Bei drei Vierteln der Frauen, die bei Kinsey Sexualkontakt mit Tieren angaben, war das betroffene Tier ein Hund, und wirklicher Geschlechtsverkehr war selten. In den meisten Fällen beschränkten sich die Frauen darauf, das Tier zu berühren oder zu masturbieren, oder sich von ihm an den Genitalien lecken zu lassen.

Vieles hängt natürlich davon ab, wie man den Begriff einer sexuellen Beziehung definiert. Der Zoologe Desmond Morris hat mit seinen Forschungen die allgemeine Beobachtung bestätigt, daß Mädchen sich mehr von Pferden angezogen fühlen als Jungen und angemerkt, daß „mit gespreizten Beinen auf einem sich rhythmisch bewegenden Pferd zu sitzen unzweifelhaft einen sexuellen Beigeschmack hat.“ Dekkers stimmt dem zu und führt weiter aus, daß „das Pferd der ideale Tröster bei der großen Ungerechtigkeit, die die Natur den Mädchen antut, ist, Jahre von den Jungen aus der Klasse, die immer noch mit der Eisenbahn spielen, sexuell zu erwachen…“

Daß sexuelle Kontakte zwischen Menschen und Tieren existieren, und wie stark das Tabu dagegen ist, zeigt die Ambivalenz unseres Verhältnisses zu Tieren. Auf der einen Seite, speziell in der jüdisch-christlichen Tradition – weniger im Osten – haben wir uns immer als von den Tieren getrennt gesehen und uns vorgestellt, daß uns eine breite, unüberbrückbare Kluft trennt. Menschen sind nach dem Ebenbild Gottes geformt. Nur Menschen haben eine unsterbliche Seele. In der Genesis gibt Gott dem Menschen die Herrschaft über die Tiere. In der Renaissance gab es die Vorstellung der großen Leiter des Seins, wo die Menschen auf dem halben Wege zwischen den Tieren und den Engeln stehen. Wir sind spirituelle Wesen wie wir physische Wesen sind. Für Kant hat der Mensch eine angeborene Würde, die ihn zum Selbstzweck macht, wohingegen die Tiere nur Mittel zum Zweck des Menschen sind. Heute wird dieser Gedanke immer noch durch die Menschenrechte – Rechte, die wir allem menschlichen Wesen zuordnen aber allen nicht-menschlichen Tieren verweigern – aufrecht erhalten.

Auf der anderen Seite gibt es viele Situationen, in denen wir gar nicht anders können als uns wie die Tiere zu benehmen – zumindest wie Säugetiere – und Sex ist da eine der offensichtlichsten Verhaltensweisen. Wir kopulieren wie sie. Sie haben Penisse und Vaginas wie wir, und die Tatsache, daß die Vagina eines Kalbes einem Manne sexuelle Befriedigung verschaffen kann zeigt, wie ähnlich diese Organe sind. Das Tabu gegen Sex mit Tieren mag, wie ich schon sagte, aus einer breiteren Ablehnung gegen nicht-reproduktiven Sex übrig geblieben sein. Aber die Verbissenheit, mit der an diesem Verbot festgehalten wird, seine Zähigkeit, wo andere nicht-reproduktive Sexualakte akzeptabel geworden sind, legt nahe, daß da noch eine andere starke Kraft am Werke ist; unser Bedürfnis, uns, erotisch und auf jede andere Art, von den Tieren abzugrenzen.

Vor fast einem Jahrhundert, als Freud gerade seine bahnbrechenden „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ publiziert hatte, veröffentlichte der Wiener Schriftsteller Otto Soyka ein flammendes kleines Werk genannt „Jenseits der Sittlichkeits-Grenze“. Es war nie sehr bekannt und ist jetzt vollends vergessen, war aber eine Polemik gegen die Unterdrückung von „unnatürlichem“ Sex wie Zoophilie, Homosexualität, Fetischismus und anderen nicht-reproduktiven Spielarten. Soyka sah in dieser Unterdrückung den vergeblichen und fehlgeleiteten Versuch, die unerschöpfliche Vielfalt der menschlichen sexuellen Wünsche einzuengen. Nur Zoophilie sollte strafbar sein, argumentierte er, und nur insofern, als sie Grausamkeit einem Tier gegenüber beinhalte. Soykas Argumentation liefert einen einzigen guten Grund, warum manche Handlungen, die Dekkers in seinem Buch beschreibt, ganz klar falsch sind und Verbrechen bleiben müssen. Manche Männer benutzen Hennen als Sexualobjekte, dringen mit ihrem Penis in die Kloake ein, das ist ein Allzweckkanal für alle Abfallstoffe und das Ei. Das ist für gewöhnlich tödlich für die Henne, und manchmal wird sie absichtlich enthauptet um die Intensität der Zuckungen ihres Schließmuskels zu erhöhen. Das ist ganz klar und einfach Tierquälerei. (Aber ist es schlimmer für die Henne als für ein Jahr oder mehr mit vier oder fünf anderen Hennen in einen öden Käfig gequetscht zu sein, so eng, daß sie nie  ihre Flügel ausstrecken können, um dann in Kisten gestopft zu werden, in denen man sie ins Schlachthaus bringt, wo sie dann kopfüber an ein Fließband gehängt werden das sie zur fließbandmäßigen Tötung transportiert? Falls nicht, dann ist es auch nicht schlimmer als das, was Eierproduzenten ihren Hennen andauernd antun).

Aber Sex mit Tieren beinhaltet nicht zwangsläufig Grausamkeit. Wer war nicht schon einmal  bei einer Einladung, wo der Hund der Familie sich ans Bein eines Besuchers klammerte und energisch mit seinem Penis daran rieb? Für gewöhnlich unterbindet der Gastgeber solche Aktivitäten, aber im privaten Rahmen wird nicht jeder ablehnen von seinem oder ihrem Hund auf diese Art benutzt zu werden, und ab und zu mögen sich daraus für beide befriedigende Beziehungen entwickeln. Soyka hätte diese wahrscheinlich in die große Bandbreite der menschlichen Sexualität eingeordnet.

Am Rande einer Konferenz über die großen Menschenaffen vor einigen Jahren sprach ich mit einer Frau, die Camp Lakey besucht hatte, ein Rehabilitierungszentrum für gefangene Orang Utans in Borneo, das von Birute Galdikas, die man manchmal als die Jane Goodall der Orang Utans bezeichnet und die die führende Autorität für diese großen Affen ist, geleitet wird. In Camp Lakey werden die Orang Utans allmählich an den Dschungel gewöhnt, und wenn sie der vollständigen Unabhängigkeit näher kommen, können sie kommen und gehen wie sie wollen. Während sie mit Galdikas durch das Camp gingen, wurde meine Informantin plötzlich von einem großen männlichen Orang Utan gepackt, dessen Absichten man an seinem erigierten Penis ablesen konnte. Sich gegen ein so starkes Tier zu wehren wäre sinnlos gewesen, aber Galdikas sagte ihrer Begleiterin, sie solle sich keine Sorgen machen, weil der Orang Utan ihr nichts tun würde und fügte als weitere Beruhigung hinzu „sie haben einen sehr kleinen Penis“. Wie es sich ergab verlor der Orang Utan das Interesse, bevor die Penetration stattfinden konnte, aber was mich an dieser Geschichte am stärksten beeindruckte war, daß in den Augen einer Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens mit Orang Utans zusammengelebt hatte, von einem von ihnen als Sexualobjekt betrachtet zu werden kein Grund für Schreck oder Angst war. Die potentielle Gewalt bei so einer Annäherung eines Orang Utans war vielleicht Grund zur Beunruhigung, die Tatsache, daß es sich dabei um einen Orang Utan handelte, war es jedoch nicht. Das ist möglicherweise so, weil Galdikas begriffen hat, daß wir Tiere sind, genauer gesagt sind wir Menschenaffen. Das macht Sex über die Artgrenzen hinweg zwar nicht zur Normalität oder natürlich, was auch immer diese viel mißbrauchten Worte bedeuten mögen, aber es impliziert, daß er aufgehört hat, ein Angriff auf unseren Status und unsere Würde als menschliche Wesen zu sein.

© 2001 Peter Singer und Nerve.com, Inc.